In vielen archaischen Kulturen wird der Fremde zunächst als Feind betrachtet, und zwar bereits deshalb, weil er von außen her und überraschend in den ansonsten überschaubaren Lebensraum der Menschen einbricht und ihn allein dadurch in Frage stellt, dass er sich anders verhält als die Einheimischen:
anders gekleidet, mit einer anderen Hautfarbe und eine andere Sprache benutzend …
Die sprichwörtlich gewordene biblische Gastfreundschaft entspringt somit keineswegs dem Edelmut der sogenannten unverdorbenen Naturvölker, sondern einer neuen Kultur des Umgangs mit den Fremden.
Hier erweist sich die Gastfreundschaft als wirksames Gegengift gegen die angstbesetzten Instinkte vor dem Fremden. Indem die Gastfreundschaft diese archaischen Gefühle zu überwinden vermag und dem Fremden nicht nur die Türe des Hauses, sondern auch die Türe des Herzens öffnet, versucht sie den Fremden als Freund zu gewinnen.
Die jüdische Auslegung des Alten Testaments, der Talmud, schlägt eine revolutionär neue Definition des Fremden vor:
Fremde gibt es eigentlich nicht, sondern nur Menschen, die sich noch nicht begegnet sind.
In diesem Sinne ist jeder Fremde ein potentieller Freund, sofern man nur den Mut hat, sich ihm zu öffnen und ihn in seinem gottgewollten Anderssein anzunehmen. Dann hört er von selbst auf, ein Fremder zu sein, und er kann sich zum Gastfreund wandeln.
Kurt Koch,
Bereit zum Innersten.
Für eine Kirche, die das Geheimnis lebt.