… und die Einsamkeit der Nummer eins
Schwester Teresa hatte bei einem Aufenthalt in Kenia diese Geschichte gehört:
Bei einem landesweiten Sportfest der Gymnasien Kenias fand auch ein Langstreckenlauf für Mädchen statt. Schon nach wenigen Runden zeichnete sich ab, dass eines der Mädchen unvergleichlich viel schneller war als die Vertreterinnen der anderen Schulen. Leichtfüßig und kraftvoll lief sie den anderen auf und davon.
Die Sportlehrer und Trainer wurden mit jedem Zwischenergebnis aufgeregter. Würde dieses unbekannte Mädchen den Landesrekord überbieten? War dies der Beginn der Karriere eines neuen »Shooting Stars«?
Als die letzte Runde eingeläutet wurde, blickte das junge Mädchen sich um und stellte fest, dass ihre Kameradinnen ganz weit zurücklagen. Statt zum Endspurt anzusetzen, begann sie auf einmal zu trödeln. Immer langsamer wurden ihre Schritte, der Abstand zu den anderen Läuferninnen schrumpfte von Sekunde zu Sekunde. »Lauf, Mädchen!«, schrien die Trainer, »lauf!« Aber sie ließ sich von der nächsten Läuferin einholen, lächelte sie an, und auch diese verlangsamte ihr Tempo. Und so kam es schließlich, dass am Ende die ganze Mädchengruppe gemeinsam die Ziellinie überquerte.
Die Trainer waren außer sich. »Bist du krank?«, fragten sie. »Nein«, sagte das Mädchen. »Hattest du Muskelkrämpfe?« »Nein.« »Du hättest einen neuen Landesrekord erringen können! Du hast das Zeug zu einer ganz großen Karriere! Warum hast du deinen Sieg verschenkt?« »Es war so langweilig da vorne«, sagte das Mädchen. »Es macht viel mehr Spaß, gemeinsam mit den anderen zu laufen.«
Da waren die Trainer sprachlos.
Die Geschichte von dem kenianischen Mädchen erscheint fast unglaublich, denn sie geht gegen alles, was uns als das einzig Richtige präsentiert wird. Wer das Zeug hat, die Nummer eins zu sein, soll mit aller Kraft danach streben! Wer seine Haut nicht möglichst Gewinn bringend zu Markte trägt, gilt als töricht. Und wer nicht die nötige Härte gegen die Konkurrenz besitzt, ist eben kein richtiger Siegertyp.
Überall werden wir auf diese Maxime getrimmt.
Die Medien sind ständig auf der Suche nach dem neuen »Supertalent«, nach dem »neuen Gesicht«, nach dem »Megastar«.
Die Schulen schauen nur auf die Leistung, und im Sport gilt nur noch: schneller, höher, weiter, besser!
Dabei sein ist alles, das war das Motto der Olympischen Spiele. Das junge Mädchen aus Kenia hat es instinktiv beherzigt. Sie hatte ihre Begabung demonstriert, aber die Gemeinschaft mit den Kameradinnen war ihr wichtiger als ein überlegener Sieg.
Das Mädchen aus Kenia ahnte, wie einsam und kalt es wird, wenn man allein ganz oben steht. Das diese Vormachtstellung teuer bezahlt werden muss, nämlich mit dem Verlust an Gemeinschaft, Nähe und Freundschaft.
Wettbewerb ist nur eine Seite. Genauso wichtig sind Kooperation und Mitgefühl.
Geiko Müller-Fahrenholz | 11.09.2006